Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Die Fahrraddiebe" von Edgar Landherr am 27. Juni 2008 um 19 Uhr im KUNSTHAUS OGGERSHEIM

Meine sehr verehrte Damen und Herren,

Edgar Landherr wendet sich einem von dem Film "Ladri di bicilette" inspirierten Bilderzyklus zu, der auf mehrfache Weise Brechungen aufweist, die als Widersprüche in den Bildern sichtbar gemacht worden sind. Er selbst will retrospektiv vermittelt über den Klassiker des neorealistischen Films eine Zeit spiegeln, die als die Nachkriegszeit nach 1945 inzwischen eine eigene Geschichtsepoche geworden sind.

Man muss um die Bilder zu verstehen, zunächst den Inhalt des Filmes wenigsten in groben Zügen kennen. Der junge Arbeitslose Antonio Ricci, übrigens von einem Laiendarsteller gespielt, lebt am Stadtrand von Rom und erhält eine Stelle als Plakatkleber. Seine Frau versetzt die Bettwäsche, um das bereits gepfändete Fahrrad ihres Mannes auslösen zu können. (Bild Nr. 13). Am ersten Arbeitstag (Bild Nr. 2) befestigen Arbeiter ein Filmplakat der Diva Rita Hayworth, als das Fahrrad von einem Halbwüchsigen gestohlen wird. Die Anzeige des Vorfalls durch den pansichen Vater, der wegen des fehlenden Fahrrades befürchtet, seine Stelle wieder zu verlieren, beeindruckt die Polizei nicht (Bild Nr. 5). Ricci sucht mit seinem Sohn Bruno (ebenfalls von einem Laiendarsteller gespielt) das Fahrrad oder den Dieb mit einem Freund von der Müllabfuhr. Sie machen ihn auf einem Markt ausfindig, als er einem alten Mann Geld gibt. Sie verfolgen ihn bis in eine von der Kirche betriebene Freiküche (Bild Nr. 7). Dort bedrängt er den alten Mann, der verschwindet. Als Antonio Ricci aus Ärger seinen Sohn schlägt, schmollt dieser (Bild Nr. 12). Der Vater kann auf dieser Verfolgung sogar seinen Sohn soweit vergessen, dass dieser von einem Auto beinahe überfahren wird (Bild Nr. 4). Nach dem Besuch bei einer Wahrsagerin treffen sie auf den Dieb, der in ein Etablissement mit tafelnden Huren flüchtet (Bild Nr. 1). Ricci holt ihn mit dem Jungen heraus und zwingt ihn, beide zu seiner Wohnung zu führen, die noch elender ist als die Riccis. Das Fahrrad entdecken sie nicht. Schließlich verführt ein abgestelltes Fahrrad an einer Hauswand einem Fußballstadion den Vater zu einer Verzweiflungstat. Er stiehlt selbst dieses Fahrrad und wird von mehreren Männern verfolgt (Bild Nr. 11). Der Junge ist verzweifelt (Bild Nr. 4). Deswegen verzichtet der Besitzer des Rades auf eine Anzeige. Als Ricci verstört davon geht, ergreift der Junge die Hand des Vaters (Bild Nr. 10).

In den Bildern des Films tauchen die labyrinthischen Straßen Roms auf, es ist eine schwatz- weiß Zeichnung der Tristesse. Dazu läuft die eigene Biographie parallel, denn Landherr kann diese Zeit, er ist Jahrgang 1945, nicht bewusst erlebt haben, sondern ist in dieser Zeit aufgewachsen und jünger als der Filmjunge Bruno. Wir erfahren konsequenterweise in dem Bilderzyklus keinerlei autobiographische Hinweise, denn der Künstler kann sich dazu gar nicht äußern, weil er bewusstes frühkindliches Erlebnis so früh in der Regel nicht möglich oder nur punktuell vorhanden sein kann. Für Edgar Landherr ist die Aneignung über die Bildsprache des Films und seine Handlung paradigmatisch möglich. Er blickt in ein Zeitfenster, das die nicht bewusst wahrgenommene Epoche so imaginiert, wie er sie sich vorstellt.

Arthur Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung mag für diese Bilder Vorbild geworden sein. Schopenhauer betont in seinem grenzenlosen Skeptizismus das subjektive Weltbild als Wahrheit. Der so erkennende Mensch sieht ja keinen Gegenstand, sondern er kennt das Auge, das die Gegenstände so sieht. Die Welt besteht nur als Vorstellung in Beziehung auf das Andere, aber in den Anschauungsformen von Raum und Zeit. Da Landherr das vielsagende Erleben und das sinnliche Anschauen als Möglichkeit fehlte, bleibt nur die vermittelte Vorstellung einer äußeren Erscheinungswelt, hier über das Medium der Erzählung in bewegten Bildern und damit der Kunst. Für Schopenhauer war eine Möglichkeit des Überwindens der Individuation, und damit des Subjektiven, die Kunst, die andere Anschauungen der Welt zulässt als es sonst im Alltag möglich wird. Der Blick muss sich in das Wesen der Welt versenken und so vom Einzelnen zum Allgemeinen übergeführt werden. Nur mit Hilfe der Kunst ist es möglich, Mitteilung der Erkenntnis zu machen, weil die Kunst das Objekt des Betrachtens aus dem Weltenlauf herausreißt, zum Stillstand, zur Kontemplation bringt und so auf eine klare Aussage hinführt, die nicht den Augenblick, sondern das Wesen aufleuchten lässt. Das hat Landherr mit seinen Standbildern aus dem Film zunächst bezwecken wollen, nämlich so das Wesen einer Zeit sichtbar zu machen.

Aber die Bilder sind nicht nur bloße Paraphrasen zum Film, also quasi gemalte Standbilder und dennoch haftet ihnen dies an, weil Landherr sich in seinen stilistischen Mitteln an einer damals weitverbreiteten zeitgenössischen, aber heute völlig vergessenen Gattung orientiert hat, nämlich der Kinoplakatmalerei. Damals besaßen große Kinos riesige Plakatstreifen, auf denen nach Photographien und Bildvorlagen die Darsteller und charakteristische Ausschnitte aus dem Film von Künstlern wiedergegeben worden sind. Sie weisen naturgemäß in starker Übertreibung monumental erdachte Kompositionen auf mit eindeutigen Gesten, Mimik und Figurenhaltung. So sind diese Bilder im besten Sinne Illustrationen zum Film und ihrerseits selbst einer Kunstgattung verpflichtet, die sie ganz bewusst zitieren. Deutlich wird dies an dem ausschnitthaften Porträt von Antonio (Bild Nr. 9), das das sorgenvolle Gesicht des Lamberto Maggiorani wiedergibt. Den verzweifelten Bruno zeigt das Bild Nr. 4, in dem es ein Bildnis von Enzo Staiola wird.

Eine weitere Verankerung in der Hinwendung auf die Nachkriegszeit besteht in Nebenfiguren, die den sozialen Hintergrund dieser Malerei, ausdeuten, wie den von einem Fuß getretenen Akkordeonspieler (Bild Nr. 2) oder die Personen der Halbwelt, die grell ausgeleuchtet werden in einer an dem Künstler Otto Dix orientierten Manier. Auch die Kleidung des kleinen Jungen, sein karierter, grauer und schäbiger Mantel ist ein direktes Dix-Zitat. Hier wird deutlich, dass Landherr auch die figurative Kunst der sozialen Wirklichkeit nach 1945 zitiert, zum Beispiel die Steigerungen der Verzweifelung in der Art eines Wilhelm Lachnit oder Hans Grundig. Das kunstgeschichtliche Zitat und das Zitat aus dem Film führt der Künstler in seinen Kompositionen zusammen. Man wird an Bertolt Brecht erinnert, der in der Dreigroschenoper schon in den Zwanziger Jahren von denen dichtete, die man im Dunkeln übersieht.

Angesicht neuer Armutsdebatten, neuer Prognosen der Armutsfalle in unseren Tagen erweist sich dieser schonungslose Blick zurück möglicherweise als warnender Fingerzeig auf eine licht- und freudlos Zukunft, in der ganze Volksschichten versinken können. Darin liegt der soziale Sprengstoff dieser Bilder. Denn zu den Stereotypen der Armut zählt, dass Arme Arme bestehlen und dies kann zum sozialen Kriegszustand führen, einschließlich der zur Schau getragenen Empörung des Establishments darüber. Was sowohl der Film als auch der Bilderzyklus Landherrs verstörend aufzeigen, ist trotz aller Gefährdungen, trotz aller Schreckensszenarien eine in den Bildern liegende humane Solidarität, die nicht zuletzt in den ineinander liegenden Händen von Vater und Sohn als Einforderung der Solidarität der Generationen gegründet ist. So gesehen begehren die Bilder auf - die Kunst trotzt der Armut.

Clemens Jöckle, künstlerischer Leiter der städt. Galerie Speyer Kulturhof Flachsgasse