Marianne Seyl: TEMPORÄRE ORTE
Rede zur Ausstellungseröffnung Kunsthaus Oggersheim, 7. März 2008, von Dr. Georgia Matt-Haen

Marianne Seyl setzt sich seit Beginn ihrer künstlerischen Aktivitäten mit unterschiedlichen Techniken und Darstellungsweisen auseinander. Ihr künstlerisches Schaffen hat dabei eine beachtliche Entwicklung genommen - formal wie inhaltlich - in deren Phasen sich die Künstlerin immer eine eigene Formensprache und einen besonderen Blick auf die Welt erarbeitete, unabhängig davon, wie gegenstandsnah oder -fern ihre konkrete künstlerische Gestaltung dem Betrachter erschien.
Marianne Seyl fasst die Ausstellung, die wir heute hier eröffnen, unter den Titel "Temporäre Orte". Dieses Thema möchte ich zum Ausgangspunkt meiner Einführung machen:

Die Bezeichnung "Temporäre Orte" fasst zwei Begriffe zusammen, die miteinander verknüpft, zunächst widersprüchlich zu sein scheinen. Suggeriert doch temporär eher etwas Vorübergehendes, Kurzfristiges.

Im Gegensatz dazu verbindet sich mit dem Begriff Ort üblicherweise die Vorstellung einer klaren Koordinate oder eines festgelegten Punktes. - Ein Ort kann durch punktuelle Bestimmung definierbar und körperlich erfahrbar sein. - Man kann Orte festlegen, End- und Anfangspunkte definieren. - Orte können Fixpunkte sein, Konventionen, Wegmarken oder Orientierungen bei der Bewältigung lebensweltlicher Aufgaben.

Orte, die mit mir etwas zu tun haben, können Ausgangspunkte von Erinnerungen sein, da ich mit einem bestimmten Ort auch Eindrücke, Erfahrungen und Gefühle verbinde.
Mit der Bezeichnung "Temporäre Orte" ist der Gedanke an etwas Flüchtiges -nicht Greifbares- verbunden: Orte, die sich uns entziehen, wenn wir versuchen, sie bestimmbar zu machen - sie zu verorten.
In den Arbeiten, die wir hier sehen, gibt die Künstlerin mit den Mitteln der Farbe, der Linie und des Helldunkel unterschiedlichen Ausprägungen des Zeitlichen und des Örtlichen auf der Bildfläche konkrete Gestalt. Die Bilder sind subjektive, also auch wieder zeit- und ortsbedingte Aussagen über die Phänomene Zeit und Ort als Grundbedingungen unseres Daseins.
Erlauben sie mir aber noch einige prinzipielle Überlegungen zu den Bildern von Marianne Seyl:
Das grundlegende bildkünstlerische Mittel im Spannungsfeld von temporärer Erscheinung und örtlicher Bestimmung der Bildgegenstände in diesen Arbeiten ist die Farbe Grau.
Grau - die Farbe des Übergangs, birgt unendliche Möglichkeiten des Transitorischen, in mehrfacher Hinsicht:
Einmal ist Grau die Farbe, die sich zu allen Buntfarben hin zu öffnen vermag, weil sie selbst Anteile davon in sich trägt. Diese Kohärenz zu den Buntfarben bewirkt parallel zu dieser Bindung auch die Möglichkeit der Verschleierung, des Sich-Entziehens: im Grau ist eine Unbestimmtheitsdimension angelegt, die sich auf die Orte der jeweiligen Bildelemente überträgt. Dies ist dann der Fall, wenn Grau als dominierender oder übergeordneter Bildgrund vor oder über diese Elemente gelegt ist - aber auch bereits dann, wenn die Bildgegenstände, ob realistisch anmutend oder nicht, sich in oder vor diesem Graugrund behaupten.
Mit dieser scheinbaren Verunklärung des Ortes ist das Moment des Temporären verbunden: weil eben die Wahrnehmung dieser Prozesse des Fixierens und Entgleitens ein Vorgang von nicht eindeutig determinierbarer zeitlicher Dauer ist.
Zweitens ist Grau die Farbe, die wie keine andere als Valeur-Farbe, also hinsichtlich ihres Gehaltes von Hell und Dunkel, die Spannungen des Lichtes und der Dunkelheit zu transportieren aber auch zu transformieren vermag. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die Farbe Grau nie den Bezug verliert zu der tiefsten Finsternis im Bild und ebenso wenig zu den lichtesten, im Weiß stehenden Flecken oder Flächen des Bildes. In dieser Hinsicht ist Grau ein einheitsstiftendes Moment.
Dabei hat das Grau in der spannungsgeladenen Polarität zwischen Licht und Dunkel zwar immer Anteil an Beidem, ist aber nie selber Pol. Und hieraus erklärt sich ebenso wie aus der farbigen Affinität zu den Buntfarben der prozesshaft bewegte Charakter dieser Farbe, man könnte sagen, seine kinetische Potentialität: Grau als ein Weg, ein Mittler zwischen Extremen, wo das fragmentarische Aufscheinen oder das zarte Andeuten und Umreißen von Bildgegenständen im Graugrund der Bildfläche in einer zeitlich gedehnten Art und Weise anschaulich wird: Grau ermöglicht eine Dehnung, eine Verlangsamung im bildhaften Geschehen. Denn nicht das plötzliche Aufblitzen des Grellen oder das tiefe Versenken in einen unermesslichen finsteren Grund ist dem anschaulichen Charakter des Grau eigen, sondern das vermittelnde Halten vor und/oder hinter einer Oberfläche, die verbirgt und entbirgt, aufdeckt und verschleiert im Jetzt des Betrachtens.
Das Temporäre des Ortes zu verbildlichen in der Fragilität, im konturbetonten Aufscheinen der Bildgegenstände, gelingt Marianne Seyl hier in besonderer Weise. Weil sie die gestalterischen Möglichkeiten der Farbe Grau behutsam aber konsequent ausmisst. In der Erkenntnis, dass sich in der Malerei die Kategorien von Zeit und Raum anschaulich nur mit ihren ureigensten Mitteln: der Fläche, der Farbe und der Linie und nur mit größtem subjektivem Einsatz der Persönlichkeit schöpferisch ausdeuten lassen.
Nach diesen prinzipiellen Überlegungen zur Darstellungsfunktion der Farbe Grau dürfte die Frage nach der Gegenstandsgebundenheit oder Gegenstandsfreiheit der Bilder von Marianne Seyl in ihrer Relevanz für die einzelnen Bilder nur noch von untergeordneter Bedeutung sein. Denn den Realitätsgrad der Bilder in Abhängigkeit von einer bestimmten Abstraktionsstufe des Gegenständlichen aus zu bestimmen, liefe hier in unserem Fall auf ein großes Missverständnis hinaus. Nur in der Synthese von spannungsvoller Ambivalenz und harmonisierender Einheit der bildnerischen Kräfte erhalten die "Temporären Orte" Marianne Seyls ihre thematische Mitte und ihre sinnliche und energetische Kraft.
Hier - meine Damen und Herren - bietet sich der Einstieg in einzelne Arbeiten von Marianne Seyl an. In ihrer Knappheit seien meine Betrachtungen lediglich verstanden als fragmentarische Hinweise und Anregungen zum weiteren Hinsehen und Nachdenken über das Wahrgenommene und meine prinzipiellen Überlegungen.
Grau ist also der vorherrschende Farbton in den hier gezeigten Arbeiten - Grau als Farbe, die alle Helligkeitstöne in sich sammelt zwischen Weiß und Schwarz. Grau, immer dunkler als Weiß und heller als Schwarz, scheint, ich habe bereits darauf hingewiesen, alle Farben in sich aufnehmen zu können. Grau gilt als neutrale Farbe - birgt aber, wie in den hier gezeigten Werken - eine unendliche Bandbreite möglicher Variationen.
Marianne Seyl setzt auf diese komplexe "Farbwelt" der Grautöne und vermag in ihren Arbeiten durch die große Spannweite dieses Farbtons Assoziationen ganz unterschiedlicher Materialitäten zu suggerieren.
Bei den beiden Arbeiten " Augenblicke" wird lichtes und dunkles Grau in blockhaft-gestaffelter Schichtung zu einer Gesamtstruktur, die an Gebautes, an Architektonisches erinnert. Die variierten Grautöne sind in unterschiedlicher Materialdichte angelegt. Tieferliegende Schichten schimmern durch bis an die Oberfläche, Einritzungen legen Farbschichten frei. Der Untergrund scheint bisweilen durch bis an die Oberfläche. Dadurch entsteht eine unfassbare Räumlichkeit, die sich dem Betrachter nie ganz erschließt.
Durchblicke in blaue Segmente lassen Himmel assoziieren - in diesem Kontext nimmt Grau atmosphärische Qualitäten an.


Felsige Buchten lebt von der Spannung, Nähe und Ferne wie Kontrapunkte einander entgegenzusetzen. Das linke Bilddrittel wird von einem dunklen Grau dominiert, das durch Materialbeimischungen eine borkige Materialität bekommt -Verkrustungen geschmolzener und wieder getrockneter Materie ähnelnd, dargestellt wie in starker optischer Vergrößerung. Diese fast haptische Stofflichkeit steht in Kontrast zur atmosphärischen Leichtigkeit der rechten Bildseite. Beide Bereiche werden von einem Eisenwinkel voneinander getrennt -und- miteinander verbunden. Auf der rechten Bildfläche wird der Blick über eine an Architektur erinnernde Form hinweg wie in eine nebelverhangene Ferne gezogen. Verschwommen schimmern rötliche Linien aus der Tiefe wie Landmarken im Nebel. Das Spannungsverhältnis zwischen Ferne und Nähe, Nahsicht und atmosphärischer Tiefe wird durch das Mittel der Collage noch verstärkt: Durch das dunkle Grau schimmern Schriftzeichen eines Zeitungstextes hindurch. Der Blick pendelt zwischen konkreter Nähe und nicht fassbarer Ferne, dem Betrachter wird eine sichere Orientierung verwehrt.
Dieses Arbeiten mit unterschiedlichen Materialien und der Spannung von Transparenz und Überlagerung erinnert mich an die Textilarbeiten von Marianne Seyl. Auch hier experimentiert sie mit unterschiedlichen Materialien, kombiniert Textil mit Papier und Plastikmaterial und erzeugt Bildräume, die sich perspektivischer "Verortung" entziehen.

Unter dem Titel Tagesschatten fasst Marianne Seyl zwei Arbeiten zusammen, die Anklänge an Gegenständliches zeigen - zarte Linien umschreiben Formen, die Gefäße assoziieren. Es entsteht der Eindruck von Räumlichkeit und Tiefe - ohne dass die Gegenstände konkret festgelegt werden - sie bleiben quasi die Idee einer umrissenen Form: mit der damit verbundenen Vorstellung von Perspektive und Plastizität.
Liniengerüste durch Ritzungen und Schraffuren verdichten die Fläche durch die Wegnahme der Farbe und "verstellen" den Blick in die Tiefe. - Hinzu tritt das Einbinden von Transparentpapier, was eine zusätzliche Verdichtung des Farbigen bedeutet. Im Gegensatz dazu stehen Grautöne, die sich der eindimensionalen Verortung entziehen und aus deren Tiefe lichte Gelb-Weißtöne schimmern wie farbige Schatten.

Harfenklang im Nebel
Unter Nebel versteht man in der Wetterkunde fein verteilte Wassertröpfchen, die durch Kondensation der feuchten und gesättigten Luft entstanden sind. Nebel macht die Konturen unscharf - Nebel stört die Orientierung im Raum - Nebel vermag Licht zu binden und aufzusaugen oder es quasi energetisch aufgeladen an den Umraum abzugeben. Im grauen Nebel erscheint uns der Raum fremd und entrückt, Dinge verschwinden und tauchen schimärenhaft auf.
In dieser 6-teiligen Arbeit sehen wir unterschiedliche und bisweilen widerständige, sich emanzipierende Bildelemente: linear oder als Fläche gedeutet, mal rot, mal weiß oder als schwarze Bahnen. Nicht die Harmonie des Zusammenfügens ist hier oberstes Gestaltungsziel, sondern die individuelle Eigenart kraftvoller Entfaltung flächigen Strömens gegen die Unruhe und nervöse Gestik zarter linearer Gebilde, die - einem musikalischen Motiv gleich - sich klangvoll und mit rhythmischer Energie vom Bildgrund abheben. Ein stilles Ringen, das sich klarer zeitlicher und örtlicher Bestimmung entzieht. Auch hier: Temporäre Orte.
Der Eindruck von Ruhe und Stille, der in Marianne Seyls Werken liegt, überdeckt nicht die Vitalität und den Assoziationsreichtum, die in der speziellen Gestaltung ihrer Bilder gründen. Die Synthese dieser anschaulichen Charaktere macht die eigentümliche gedankliche Tiefe und die sinnliche Faszination ihrer Arbeiten aus.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.